Die enge Abhängigkeit dieses Fundortes zur Hauptstadt Sam’al (Zincirli) ist durch die oben genannte Inschrift und durch die unmittelbare Nähe der beiden Orte belegt. Sie formen eines der wenigen Beispiele für ein eisenzeitliches Siedlungssystem, das den zentralen Ort eines Stadtstaates und ein externes religiöses Zentrum beinhaltet.
Vergleichbar scheint die Situation in Guzana (Tell Halaf), wo sich der Haupttempel des Wettergottes laut der Inschrift auf der Statue des Hadad-Ys’i in dem 2,5 km entfernten Sikani (Tell Fecheriye) befunden haben soll. Dass hierin womöglich ein besonderes Merkmal der eisenzeitlichen Re-urbanisierung des syro-anatolischen Raums zu sehen ist und mithin ein Phänomen aramäischer Religionspolitik, legt der überraschende Befund nahe, dass bislang an keinem der aramäischen Zentren wie Sam’al, Til Barsip, Guzana, Hamath oder Damaskus ein bedeutender Tempel archäologisch nachgewiesen werden konnte.
Die in der Wissenschaft mit vielen offenen Fragen geführte Diskussion um die urbane Entwicklung der luwischen und aramäischen Stadtstaaten (Mazzoni 1994; 2011; Novàk 2004; 2014) würde durch eine genauere Klärung von Aussehen und Funktion der Anlage auf dem Gerçin Höyük mit Sicherheit wichtige neue Antworten finden.
Auf lokaler Ebene bietet der Gerçin Höyük einen Schlüssel zum Verständnis zur Entstehung und Entwicklung des luwisch-aramäischen Königtums und Stadtstaates von Sam’al (Bît Gabbar). Noch ist die Frage, wann es genau zur Gründung der Stadtanlage von Sam’al kam, unbeantwortet. Gemeinhin wird von einer aramäischen Neugründung ausgegangen, die sich laut schriftlicher und ikonographischer Zeugnisse um das 10. Jh. v. Chr. ereignete (Wartke 2005).
Die seit 2005 durchgeführten Neugrabungen des Oriental Instituts in Zincirli befassen sich intensiv mit dieser Frage (Schloen und Fink 2009), liefern jedoch bislang keine eindeutigen Ergebnisse. Wohl weisen die neuen Grabungsergebnisse in den Tiefschnitten am Burgberg auf bronzezeitliche Siedlungsvorläufer, ohne dass jedoch eine durchgehende Sequenz im Übergang von Bronze- zur Eisenzeit hätte nachgewiesen werden können. Wann die Bauaktivitäten einsetzten, die zum Aussehen der eisenzeitlichen Stadtanlage führten, und ob diese tatsächlich mit der Ankunft der Aramäer in diesem Gebiet gleichzusetzen ist, konnte auch nicht durch die Nachgrabungen an den bereits von deutschen Archäologen freigelegten Bauwerken der Ober- und Unterstadt von Zincirli geklärt werden (Pucci 2015).
Neue Untersuchungen auf dem Gerçin Höyük eröffnen daher eine Reihe von Optionen, die auch für die Interpretation der Stadtgeschichte von Sam’al aufschlussreiche Folgen hätten:
Die Anlage könnte
a) älter sein als die Stadtgründung in Sam’al und damit ein (religiöser) Anziehungspunkt für die Wahl dieses Ortes gewesen sein,
b) parallel zur Gründung von Sam’al als außergewöhnliches identitätsstiftendes und raummarkierendes Monument der neuen herrschenden Dynastie errichtet oder
c) erst später als besonders ambitioniertes Projekt eines einzelnen Herrschers, namentlich Panamuwas am Ende des 9. Jhs. v. Chr. dem Stadtstaat hinzugefügt worden sein.